OUVERTÜRE
Im Wallis, in den Schweizer Alpen, existiert seit einem halben Jahrtausend ein ausgefeiltes System von Bewässerungsanlagen als Commons. Im hochgelegenen Heiligen Tal der Inkas in Peru, haben die Quechua seit Menschengedenken die weltweit größte Vielfalt an Kartoffeln gezüchtet. Und seit der Zeit Stefans des Großen im späten 15. Jahrhundert bewirtschaften die Menschen der Ostkarpaten ihre Wälder gemeinsam. Die dazugehörigen Institutionen sind dort als obștile bekannt und haben selbst 50 Jahre Diktatur im 20. Jahrhundert überlebt. Solche Beispiele zeigen, dass Commons vor allem eines sein können: dauerhaft. Doch zugleich sind sie hochgradig gefährdet, etwa weil die von den Nationalstaaten beanspruchte absolute territoriale Souveränität mit sinnvollen Commons-Strukturen, die nicht an staatlichen Grenzen enden, in Konflikt geraten kann. Oder weil global agierende Konzerne über immense finanzielle Mittel und rechtliche Privilegien verfügen, mit denen sie Commons verdrängen. Nichtsdestotrotz lassen sich viele Menschen nicht davon abhalten zusammenzuarbeiten, um Beziehungsnetze und Dinge zu schaffen, zu bewahren und zu schützen, die ihnen viel bedeuten. Dahinter verbirgt sich eine Mischung von Bedürfnis und Erfüllung, von Überlebenswillen und Stolz. Gemeinschaftliches Wirken, »Commoning« oder »Gemeinschaffen«, gibt es überall – in Wolkenkratzern aus Stahlbeton wie in den von Erdbeben zerstörten Häusern entlegener Dörfer in Nepal, in Künstlergemeinschaften, Bildungs- und Forschungseinrichtungen genauso wie in den Gemeinschaftswäldern Indiens oder im Cyberspace.
Wie widerstandsfähig diese sozialen Phänomene auch sein mögen, in den modernen Industriegesellschaften genießen sie wenig Beachtung und Anerkennung. Noch scheinen wir Macht- oder Geldwohlstandsbesitzende mehr zu verehren und zu fürchten – zumindest aber zu kennen –, als Menschen, die erfolgreich teilen, kooperieren und Anderes ausprobieren. Letztere bleiben weithin unbekannt oder werden gar als weltentrückte Spinner belächelt, weil sie Dinge tun, »die sich nicht rechnen«. »In der realen Welt funktioniert das nicht«, wird oft gesagt und dabei übersehen, dass die Vielfalt der Commons genauso wie die (meist weiblichen) Für-, Um- und Vorsorgetätigkeiten Grundlagen »der realen Welt« sind. Die Marginalisierung sozialer Praktiken, die sozial innovativer sind als das »Geld-gegen-Ware«-Prinzip, liegt auch darin begründet, dass Räume des Gemeinsamen durch moderne Zeiten, die Rundumkommerzialisierung des Lebens und abhängigkeitserzeugende Technologien1 zerrüttet wurden. Die dominierende Kultur des Marktes zementiert zudem den Individualismus als ultimative Erfüllung und verunglimpft gemeinschaftlich getragene Lösungen oder solche, die in P2P-Netzwerken erprobt werden, als wahlweise »unpraktisch« oder »utopisch«, so als würden sich individuelles und kollektives Interesse, Individualität und Gemeinschaftlichkeit gegenseitig ausschließen. Das Gegenteil ist der Fall. Individualität ist nicht nur unabdingbar für erfolgreiches Commoning, wie viele der Beiträge dieses Buches zeigen, sondern Bedingung dafür, »gemeinschaftsfähig« zu sein. Umgekehrt trägt Commoning zur Stabilisierung des Selbst bei. Ein jeweils starkes Selbst und starke Commons sind also nicht nur miteinander vereinbar, sondern bedingen einander und bringen sich gegenseitig hervor. Die Frage lautet daher nicht, ob, sondern wie das zu bewerkstelligen ist. Deshalb beschreibt Die Welt der Commons. Muster gemeinsamen Handelns bemerkenswerte Formen von Commoning an den verschiedensten Orten der Welt.
In vielen sozialwissenschaftlichen Publikationen – insbesondere den wirtschaftswissenschaftlichen – ist es gang und gäbe, Commons mit gemeinsam zu bewirtschaftenden Gütern gleichzusetzen. Doch Commons sind keine Dinge, Ressourcen oder Güter, sie sind vielmehr ein Gefüge von Sozialstrukturen und -prozessen. Dabei mag der Umgang mit bestimmten Ressourcen – zum Beispiel mit Land, Wasser oder Meeresfrüchten, mit Informationen oder Werkzeugen – durchaus im Mittelpunkt stehen, die konkreten Strukturen prägen und auch wirtschaftlich von Belang sein. Aber die Aufmerksamkeit übermäßig auf die physische Substanz oder das Wissen zu richten, das in einem Commons sowohl verwaltet als auch gebraucht wird, lenkt von dessen wirklichem Kern ab: dem möglichst bewussten Denken, Lernen und Handeln als Commoner, also dem, was wir »Commoning« nennen. Letzteres begreifen wir als Teil des Menschseins, als unaufhörlichen, niemals gleich verlaufenden Prozess.
Commoning als lebendiger Prozess
Sich auf dieses lebendige Tun zu konzentrieren, statt »Commons« als Objekt zu betrachten, gehört zu den außergewöhnlichen Stärken der Commons, lässt aber auch die Vorstellung ins Leere laufen, man könne sie mit naturwissenschaftlich anmutenden Definitionen erfassen. Schließlich geht es in diesen Prozessen um Kreativität, Eigenwilligkeit, Improvisation und ständige Wandlung, kurz: um Lebendigkeit, weshalb sich jede theoretische Annäherung zum Verständnis der Commons auf eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der gelebten Praxis und den konkreten Erfahrungen in Commoning-Prozessen einlassen muss. Theorie und Praxis müssen sich gegenseitig stärken, so wie sich Partitur und Orchesterspiel erst in Bezug aufeinander zu einer Sinfonie ergänzen. So wenig, wie sich allein aus Notenblättern das Geigenspiel lernen lässt, lassen sich Commons nur theoretisch verstehen.2 Wenn also nicht Ressourcen, Güter und Dinge im Mittelpunkt stehen, sondern zwischenmenschliche sowie Mensch-Natur-Beziehungen, dann müssen Institutionen jeder Art – in Wirtschaft, Politik und Bildung – verlässlich drei Dinge fördern: ökologische Nachhaltigkeit, Gemeinschaftlichkeit und freie Kooperation. Viele Ökonomen, die Commons als spezifische Güterklasse auffassen, mühen sich jedoch, Regel- oder Gesetzmäßigkeiten in Bezug auf physische Bestände aufzuspüren, ihnen einen Geldwert zuzuschreiben und auf dieser Grundlage geeignet erscheinende Institutionen oder politische Maßnahmen zu empfehlen. Behavioristisch geprägte Denkschulen anderer Disziplinen halten ihnen die Steigbügel, indem sie soziale Prozesse einfühlungslos und beziehungsbefreit mit naturwissenschaftlichen Methoden zu greifen suchen. Doch dieses Vorgehen ist ungeeignet, um soziale Phänomene zu begreifen. Wenn wir Commons als »beziehungsgetragenes Sozialgefüge« betrachten, bekommen wir Anderes in den Blick. Statt die Umwelt als eine vom Sozialen getrennte Sphäre zu betrachten, helfen uns Commons zu verstehen, dass wir Teil der Natur sind und uns daher selbst zugrunde richten, wenn wir die Natur zerstören. Statt uns auf Vermögensbestände zu konzentrieren, die ein Preismechanismus hin- und her transferiert, können wir unser Augenmerk auf komplexe Flüsse von Ressourcen richten, die nach jeweils selbstbestimmten Regeln zugänglich gemacht und genutzt werden. Statt unpersönliche Markttransaktionen als Königsweg zur Befriedigung von Bedürfnissen zu sehen, erkennen wir Commoning als praktische Alternative, die es erlaubt, aus der Marktabhängigkeit herauszutreten. Es gibt keinen überzeugenden Grund anzunehmen, dass dies nur auf Ebene der unmittelbar-interaktiven Beziehungen überschaubarer Netzwerke oder Gemeinschaften gilt. Auch in die »gesellschaftliche Handlungsmatrix« (Stefan Meretz) können Commons-Prinzipien eingeschrieben werden.
Doch in diesem Buch geht es zunächst um einen anderen wichtigen Strang der Commons-Erzählung: die persönliche und soziale Dynamik in den konkreten Praktiken und Werten, den Ritualen und Traditionen sowie sinnstiftenden Erfahrungen, die aus Commons entstehen und die in den Kontext des kulturellen Paradigmenwechsels gestellt werden, in dem wir uns befinden. Erst diese tiefere Ebene hält die Commons zusammen, macht sie dauerhaft, flexibel und widerstandsfähig. Das ist einer der Gründe, warum sich Commons nicht mit Patentrezepten institutionalisieren, geschweige denn in einer Art Reiz-Reaktions-Muster erzeugen lassen. Traditionelle Commons, wie die eingangs zitierten, in denen es stark um grundlegende materielle Lebensbedingungen geht, sind eng mit der Geschichte der jeweiligen Gemeinschaft verknüpft. Viele zeitgenössische Commons hingegen sind eher kurzlebig und entstehen aus spontan gebildeten Gruppen – im Fall internetbasierter Commons in der Regel aus Netzwerken von Menschen, die einander fremd sind. Selbstredend konstituieren Letztere eine andere Art von »community«3 als Gemeinschaften in realer Begegnung, doch lassen sich auch hier alle Beteiligten auf die Zusammenarbeit an einem Projekt oder für ein Anliegen ein, indem sie die Kooperationsmöglichkeiten nutzen, die offene Commons-Strukturen bieten. Welche Bedeutung den so verschiedenen Subjekten erfolgreicher Commons, von intentionalen Gemeinschaften bis zu P2P-Netzwerken, tatsächlich zukommt, werden wir im vorliegenden Buch nicht theoretisch klären. Stattdessen stellen wir höchst unterschiedliche gemeinsam verantwortete Prozesse und Projekte vor, bei denen Zielsetzung, ideelle und persönliche Verbundenheit, geografische Nähe, sich überschneidende Talente und Interessen oder einfach nur Notwendigkeit die Grundlage für starke, dauerhafte Commons sind. Und indem wir dies vorstellen, stellen wir fest, dass es keinen Lebens- oder Produktionsbereich gibt, der nicht als Commons gestaltbar ist.
In dem 2012 veröffentlichten Band Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, eröffneten wir ein Panorama verschiedener internationaler Perspektiven auf das Thema, auf die Einhegungen der Commons und die produktive Kraft, die sie entfalten können. In diesem zweiten Band (dem ein dritter folgen wird), wollen wir das Panorama vervollständigen und im Gegensatz zur Standardökonomik besondere Aufmerksamkeit auf die innere Dynamik der Commons richten. Dabei bedienen wir uns nicht dem standardökonomischen Repertoire von analytischen Konstrukten und Kategorien, die auf eine idealisierte Fiktion des Homo oeconomicus aufbauen. Wir sind mehr als »rationale« Wirtschaftsmenschen und individuelle Nutzenmaximierer. Im archetypischen Homo oeconomicus, vorzugsweise als Mann verkörpert und als isoliertes Individuum verstanden, hat unsere gemeinschaftliche und gesellschaftliche Sozialität keinen echten Platz. Die Idee, dass wir erst »durch-ein-ander« (Ina Praetorius) sowie an-ein-ander werden, was wir sind, ist darin ausgelöscht. Doch eben dieser Gedanke liegt dem vorliegenden Band zu Grunde: Menschen wachsen und reifen nicht in Vereinzelung, sondern in Beziehungen zu anderen. »Ich bin, weil wir sind«, so beschreibt es der Nguni-Bantu-Ausdruck »Ubuntu«. Dabei liegt es uns fern, eine idealisiertes Gegenbild zum Homo oeconomicus zu konstruieren. Wir wollen vielmehr den Realitäten des Commoning als komplexe menschliche Erfahrung nachgehen, die von ganz normalen Menschen gelebt wird. Viele Beteiligte, denen Sie in diesem Buch begegnen, verbindet der Wunsch, die Freiheit (und die gesellschaftlichen Möglichkeiten) zu haben, ihre Bedürfnisse auf kreative, faire und selbstgestaltete Art und Weise befriedigen zu können, ohne in Abhängigkeit von Markt oder Staat zu stehen. In diesem Wunsch spiegelt sich ihr instinktives Verlangen, mit anderen zusammenzuarbeiten, denn es ist ein Irrglaube, dass Individuen in modernen, marktorientierten Kulturen nur für sich selbst sorgende Menschen werden. Er beruht unter anderem auf einem Autonomiebegriff, der die Geld- und damit Marktabhängigkeit des Einzelnen in dieser Gesellschaft ignoriert. Tatsächlich erlernen wir Autonomie, wenngleich das widersprüchlich klingt, in Beziehungen. Dort entsteht die spannungsreiche Erfahrung, aus der ich autonom hervorgehen kann. Kurz: Autonomie will in Beziehung gelernt und gelebt sein. Commons bilden dafür einen geeigneten Rahmen. Natürlich verschwinden individuelle Begabungen und Eigenschaften nicht in Beziehungsnetzen, doch haben auch sie ihren Ursprung in den sozialen Zusammenhängen, den kulturellen und physischen Räumen und Zeitkonzepten, die unser Dasein bedingen. Unsere Fähigkeiten entwickeln sich wie unsere Sprache und Identität nur durch das Miteinander in einem größeren Kollektiv. Die Glücksforschung bestätigt, dass die meisten Menschen diese Einsicht gewissermaßen verinnerlicht haben: Wenn sie an ein gutes Leben denken, so stellen sie sich (noch immer) nicht das rechnende Subjekt vor, das permanent den eigenen Nutzen auf Kosten anderer maximiert.
Ähnliches gilt für unsere ethischen Vorstellungen, Normen und Grundsätze. Sie fallen nicht vom Himmel und können auch nicht einfach verkündet und durchgesetzt werden. Sie entstehen vielmehr in Interaktion. Wenn Kinder aus der egozentrischen Phase herauswachsen und die Sichtweisen anderer verstehen lernen, entwickeln sie allmählich eine Idee davon, was richtig und was falsch ist. Die Forschung belegt, dass Mitmenschlichkeit, wie das Teilen von Nahrungsmitteln oder nachbarschaftliche Hilfe, einen positiven Selektionsfaktor in der Evolution darstellt. Mitmenschlichkeit zu erfahren trägt letztlich zur Entwicklung von moralischen Grundsätzen bei, in denen gegenseitige Hilfsbereitschaft hoch angesehen ist. Es ist daher zu vermuten, dass Commons auch in Zukunft alltägliche Vehikel sein können, um eine kraftvolle soziale Ethik zu beleben, die sich weder aus staatlicher Koordination, noch aus der Marktkultur ergeben kann.
Die Welt der Commons. Muster gemeinsamen Handelns ist ein Versuch, die Gegenwärtigkeit dieses Ansatzes sichtbar zu machen. Dabei präsentieren wir nicht lediglich eine eklektische Sammlung interessanter Beispiele – die übrigens auch ganz für sich stehen und gern abschnittsweise gelesen und reflektiert werden können –, vielmehr versuchen wir, Muster des Commoning sichtbar zu machen. Dieser Ansatz ist zum Teil von der Arbeit des Architekten, Stadtplaners und Philosophen Christopher Alexander inspiriert, der in seinem 1977 erschienenen Buch A Pattern Language (dt. Eine Mustersprache) die Attribute von Gebäuden und architektonischen Räumen identifiziert, die als »lebendig«4 wahrgenommen werden. Alexander war dieser schwer fassbaren und noch namenlosen Qualität auf der Spur, für die er Begriffe nutzte wie »Lebendigkeit«, »Ganzheit« und »Unvergänglichkeit«, um auf das Wesen dessen hinzudeuten, was er im Sinn hatte. Er entwickelte nicht nur die Muster als Mittel zum Verständnis und zur Lösung komplexer Probleme, sondern auch die Idee von Mustersprachen als einer heuristischen Methode, um gestalterische Grundsätze auszudrücken und jenen Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen des Ganzen zum Ausdruck zu verhelfen, die ein Gefühl der Lebendigkeit erzeugen. Diese Beziehungsperspektive veranlasst uns, den Musteransatz zu nutzen, um uns den Commons zu nähern. Auch hier geht es um komplexe, lebendige Systeme, um deren Entstehen und Gedeihen. Genauso wie im Laufe der Zeit ein Trampelpfad entsteht, weil er Hunderten von Wanderern nützt, kann auch ein Commons entstehen und andauern, weil seine besondere »soziale Morphologie« den Beteiligten zusagt und/oder für sie Sinn ergibt. In einem Commons vermischen sich Ressourcen – ein Wald, ein Gewässer oder Energieträger, emotionale Energie, Arbeitskraft, Wissen – mit sozialer Praxis und vielfältigen Institutionalisierungsformen, woraus ein integriertes System entsteht, das als Ganzes zu betrachten ist. Muster helfen uns zu erkennen, was unzählige Commons gemeinsam haben, ohne diese zu homogenisieren oder übermäßig zu vereinfachen. Daher scheinen sie uns besonders geeignet, die Fallstricke klassischer analytischer Modelle zu vermeiden, welche in der Regel zu starr sind, alles über einen Kamm scheren und die »unordentliche« Dynamik des Lebendigen nicht zu fassen vermögen. Selbstredend gehen wir in diesem Buch nur einen ersten Schritt auf der Suche nach den Mustern des Commoning, in der Hoffnung, dass dieser die Entwicklung einer Mustersprache der Commons initiieren wird.
Die Partitur für dieses Buch
Wir haben versucht, dieses Buch ähnlich wie eine Musikkomposition zu strukturieren. Den Auftakt macht die Ouvertüre, nach der wir mit Teil I in das Hauptthema, das »Commoning«, einführen und dieses mit dem von Ivan Illich geprägten Begriff der Konvivialität verbinden. Der Ouvertüre folgen drei Themensätze, die jeweils durch ein »Intermezzo« miteinander verbunden sind, bevor sie mit einem Finale schließen. Wir hoffen dadurch, wie bei jeder guten Komposition, die Kraft und Eloquenz der in verschiedenen Variationen und Kontexten wiederkehrenden Motive vermitteln zu können.
Teil I soll zur Orientierung dienen. Zu den Leitmotiven der Idee der Commoning-Muster gehören das Ringen der jeweils Beteiligten um Regeln und Institutionen, die die sozialen Prozesse stabilisieren, die sinnvoll und funktional sind, die die Spannung zwischen individuellen und kollektiven Interessen aushalten und in denen Fairness und Transparenz einen hohen Stellenwert besitzen. Commoning ist im Grunde ein Prozess, durch den wir eine Kultur des Miteinanders generieren. Mit ihr können wir eine Idee davon entwerfen, wie wir als Gesellschaft zusammenleben wollen. In vielen Beiträgen wird uns immer wieder vor Augen geführt, welch zentrale Rollen gemeinsames emotionales Engagement und Identitätsgefühl im Commoning spielen, wie Commons im Laufe der Zeit die Beteiligten prägen und beinahe unmerklich ihr Verhalten verändern. In Commons sind Dinge selbstverständlich, die in der Marktwirtschaftskultur als bemerkenswert und preisverdächtig gelten.
Ein unvermeidliches Thema für alle Projekte ist die gewaltige Herausforderung, Commons vor Einhegung und destruktiven Einflüssen zu schützen, ganz gleich, ob diese von Seiten der Märkte, des Staates oder von Trittbrettfahrern ausgehen.5 Wir haben uns bewusst dafür entschieden, die Einhegungen in diesem Band nicht in den Mittelpunkt zu stellen, auch weil wir uns damit in unserer vorhergehenden Anthologie auseinandergesetzt haben. Auf den Seiten, die Sie gerade in den Händen halten, liegt das Augenmerk eher auf dem konstruktiven Andersmachen, als beste zur Verfügung stehende Strategie, um sich gegen Einhegungen zur Wehr zu setzen, gefährdete Gemeingüter zurückzuerobern und neue zu schaffen.
In Teil II stellen wir knappe Profile von über 50 verschiedenen Commons vor. Damit wollen wir deren überwältigende Bandbreite aufzeigen: in verschiedensten Kulturen, quer durch die Zeit und über den gesamten Erdball verteilt sowie rund um unterschiedliche Ressourcenbereiche. Die konkreten Aktivitäten unterscheiden sich stark voneinander, doch sind in ihnen Cluster erkennbar, die wir wie folgt eingeteilt haben: »Langlebige Commons«, »Commons der Nachbarschaftlichkeit«, »Commons der Lebenskultur«, »Commons in Kunst und Kultur«, »Tech-Commons«, »Commons für Wissen und Code«, »Tausch- und Kredit-Commons«, »Instrumente und Infrastrukturen für Commons«, »Lernen als Commons« sowie »Omni-Commons«. Wenn in diesem Teil des Buches zahlreiche Open-Source-Projekte und digitale Plattformen beschrieben werden, so ist das darauf zurückzuführen, dass dieser Bereich sicherlich eine der aktuell robustesten Strukturen bietet, die Commoning ermöglicht. Das Open-Source-Paradigma ist enorm produktiv und populär, nicht nur im Internet. Auch Offline-Einrichtungen und Plattformen orientieren sich daran. Von solchen Räumen fühlen sich häufig innovative Köpfe angezogen, die sich für positive gesellschaftliche Veränderungen einsetzen. Auch offene Plattformen und Infrastrukturen laufen allerdings Gefahr, für politische oder kommerzielle Zwecke missbraucht und umfunktioniert zu werden – eine Gefahr die täglich wächst, wie aus den Debatten über kommerzgetriebene Sharing-Ökonomie, Netzneutralität und Datensammlungen von Regierungen und Konzernen deutlich wird.
Von den üblichen Commons-Klassifizierungen, etwa in natürliche und Wissens-Commons, in materielle und immaterielle, städtische und ländliche Commons sind wir bewusst abgerückt. Das hat mehrere Gründe. Der wichtigste ist schlicht, dass jedes Commons sowohl materielle als auch immaterielle Grundlagen hat und – ganz gleich, welche Sache konkret im Mittelpunkt steht – immer auch auf Wissensproduktion und -austausch beruht. Materielle Ressourcen und Wissen sind die Fundamente für alle Commons, weshalb es uns widersinnig erscheint, dies durch die Klassifizierung zu ignorieren.6 Wir haben stattdessen die Projektprofile aus Teil II in losen Gruppierungen sich ähnelnder Erfahrungen miteinander verbunden. Das ist nicht als Vorschlag für eine neue Systematik im Commons-Diskurs zu verstehen, sondern zunächst unser Versuch, verwandte Commons zusammenzudenken. Commoning, so wird in diesem Teil sichtbar, überwindet auch praktisch die irreführenden mentalen Entweder-oder-Schemata, die das moderne Denken hervorgebracht hat. Dadurch wird wieder aufeinander beziehbar, was in »öffentlich« und »privat«, »objektiv« und »subjektiv« oder »materiell« und »immateriell« gespalten erschien. All dies sind Dualismen, Schwarz-Weiß-Malereien, die nicht nur trennen, sondern zugleich unsichtbar machen, was dazwischen oder darüber hinaus existiert. Dies hat enorme Konsequenzen: Wer nur »öffentlich« und »privat« denkt, sieht auch nur öffentliche (staatliche) oder private Akteure am Wirken, erdenkt in Zeiten leerer Staatskassen sogenannte »Public Private Partnerships« (PPP) und entfaltet keinerlei Kreativität für »Public Commons Partnerships«, um nur ein Beispiel zu nennen.
In Teil III fragen wir schließlich, wie tief sich Commoning eigentlich in unserer Welt verwurzeln und in welche Ebenen es vordringen kann. Diesen Fragen gehen sieben renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf den Grund, indem sie die innere Dynamik des Commoning erforschen. Die Essays schildern die Fundamente des Commoning in verschiedenen Kulturen und historischen Zusammenhängen, etwa in der schottischen Binnenfischerei, in den aktuellen Kämpfen in Barackensiedlungen Südafrikas, bei den mit dem Meer innig verbundenen Maori oder im Kontext von Landnutzungsfragen in Westafrika und Frankreich. Aus den Analysen wird deutlich, wie Commoning im Kern auf die Schaffung einer Weltsicht hinausläuft. Eine Weltsicht, die Weltgestaltungskraft besitzt, die unser Sein mit unserem Tun verschmilzt. Die Essays dieses dritten Teils ähneln Taschenlampen, die eine erst kürzlich entdeckte Höhle vorsichtig ausleuchten: Sie werfen ein Licht auf durchaus erstaunliche Commons-Erfahrungen. Dabei sind wir längst nicht in die wahren Tiefen vorgedrungen. Noch wissen wir nicht wirklich, wozu wir gemeinsam in der Lage sind. Das mag an anderen Orten der Welt anders sein, doch in unseren digitalisierten und durchmonetarisierten Lebenswelten erleben wir das Nachsinnen über die Tragfähigkeit der vielfältigen Formen des Gemeinschaffens in den Kinderschuhen; ebenso deren Bedeutung für die Umgestaltung von Regierungs-, Rechts- und Wirtschaftsformen, also die Neukonzeption gesellschaftlicher Vermittlung, die quasi noch in Strampelhosen steckt. Zunächst dies: Commons gesellschaftlich zu denken ist möglich. Mehr noch: Indem die Essays in Teil III auf die ontologische, also die Seins-Ebene gehen, verweisen sie auf die »pluriversalen« Formen des Wissens, Handelns und Seins, die das Wesen des Commons-Paradigmas ausmachen und letztlich zu Kategorien der Weltbeschreibung führen werden, die den Bedeutungsrahmen über das in einer »marktfähigen Demokratie« Denkbare hinaus verschiebt. In diese Richtung wird noch viel (Forschungs-)Arbeit zu leisten sein.
Die Rolle von Subjektivität und Intersubjektivität
Wer sich wissenschaftlich mit Commons beschäftigt, wird schnell feststellen, dass sich unser Denkansatz für Commons von dem Forschungsrahmen unterscheidet, der als Institutional Analysis and Development (IAD) bekannt geworden ist. Dieser wurde gemeinsam mit anderen von der Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom entwickelt und zur interdisziplinären Analyse zahlreicher Variablen in weit über eintausend gemeinschaftsgetragenen Institutionen eingesetzt. Auf Grund des Forschungsdesigns wird dabei oft nicht deutlich, welche interne Dynamik tatsächlich für gelingende Sozialprozesse entscheidend und welche zufällig oder kontextabhängig ist. Mit unserem Blick auf Commons wollen wir den IAD-Ansatz nicht übergehen; doch wir wollen das, was mit seiner Hilfe erkennbar wird, erweitern und bereichern und dabei außer Acht lassen, was uns weniger konsistent erscheint (etwa die in ihn eingeschriebene Modellierung des sozialen Wandels). Es geht uns dabei vor allem um die Rolle von Subjektivität und Intersubjektivität. Commons müssen auch »von innen heraus« betrachtet werden, durch die Vermittlung von Erfahrung, Gefühl, Geschichte und Kultur jedes Beteiligten. Deswegen können sie nicht durch ein wie auch immer geartetes Sortiment von »besten Verfahrensweisen« oder importierten »goldenen Regeln« gesteuert werden. Commons entstehen durch persönliches Engagement. Sie sind das Produkt der Kombination von Persönlichkeit, Ort, Kultur, Zeit, politischen Gegebenheiten und so weiter. Commoners beschreiben dies in der Regel mit ganz eigenen Begriffen, doch eine gemeinsame Sprachfähigkeit – eine Sprache der Commons – zu finden kann helfen, die je eigenen keimhaften Bemühungen zu denen Anderer sowie zur gesellschaftlichen Transformation in Beziehung zu setzen.
Natürlich gibt es viele rechtliche, finanzielle und organisatorische Formen, die Commons-Prinzipien in größerem Maßstab voranzutreiben vermögen. Wobei Rechts- und Organisationsformen nicht zwingend eine Praxis des Commoning hervorbringen. Immer wieder werden Gesetze und Institutionen »umgenutzt«, um dann ganz anderen Zwecken zu dienen. So sind viele Genossenschaften inzwischen mehr von Managementideen, Wettbewerbsfähigkeit und Gewinnorientierung getrieben als von ihren kooperativen Grundsätzen. Mikrofinanzprojekte sind derart von der Kapitallogik durchdrungen, dass die Souveränität, die Tausch- und Kredit-Commons mit sich bringen können, völlig ins Hintertreffen geraten. Auch Gemeinschaftsräte und gemeinnützige Organisationen – ganz zu schweigen von staatlichen Einrichtungen, die dem öffentlichen Interesse dienen –, können von der Koordinationsfunktion in die Kontrollfunktion kippen. Nicht überall wo Commons draufsteht, sind Commons drin.
Recht und Politik kommt aus unserer Sicht derzeit die Rolle zu, innovative und vertrauenswürdige Commons-Institutionen mit auf den Weg zu bringen, die eigenen Instrumente einer kritischen Revision zu unterziehen und für mehr Rechenschaft gegenüber jenen Anliegen zu sorgen, die in diesem Buch umrissen werden. Der Staat kann Commons fördern, indem er günstige Bedingungen schafft, damit Commoners ihre Ziele verfolgen können. Selbst wer in eher traditionellen Einrichtungen und Verwaltungsorganen agiert, kann Verantwortung für Commons übernehmen, insbesondere wenn der Versuch gelingt, »wie ein Commoner zu denken« – weswegen es sich auch lohnt, dieses Buch zu lesen. Letzlich kann der Staat nur durch einen solchen Perspektivwechsel tatsächlich commons-freundlicher werden, doch dafür muss er sich von der Marktlogik befreien. Ein Thema für unsere nächste Anthologie! Ganz gleich jedoch, wie gut Politik und Recht konzipiert sind: Sie können eine Kultur des Commoning nicht ersetzen.
Eine neue Weltsicht
Commoning ist ein radikales Konzept, weil es auf der aktiven, wissenden Teilnahme und Teilgabe von Menschen beharrt, die ihr Leben selbst gestalten wollen. Dabei geht es nicht einfach nur darum, gemeinsame Ressourcen zu teilen (das wäre auch per Algorithmus zu organisieren), sondern es geht um aktive Zusammenarbeit mit anderen. Es geht darum, gemeinsame Ziele zu verfolgen und Probleme zu lösen. Genauso wie die Marktkultur spezifische Seinsweisen hervorbringt, geschieht das auch durch Commoning. In Commons-Kategorien zu denken und aus diesem Denken heraus zu handeln (und umgekehrt) fördert persönliche Fähigkeiten und Kompetenzen, die für ein sinnstiftendes und kreatives Leben notwendig sind. Die Absicht zählt sowie der Zweck, der in Commons gelegt wird und die damit verbundene emotionale Arbeit. All dies kann nicht einfach per Satzung und Geschäftsordnung in eine Organisation oder einen Ablauf hineingeschrieben werden. Es ist ein Prozess, der durch uns hindurchgeht ähnlich wie das »rechnende Denken« (K.H. Brodbeck). Durch die unzähligen Einzelaktivitäten, die einen solchen Prozess tragen, vervielfältigen sich die notwendigen Fähigkeiten und Kompetenzen nicht nur im Einzelnen, sondern auch allgemein. Commoning kann durch wiederholte gemeinsame Reflexion, wie auch immer sie organisiert sein mag, erheblich unterstützt werden. Auch hier kann die Sprache der Commons ein Schlüssel sein, um andere Arten des Seins, Wissens und Handelns zu entdecken. Sie wird helfen, uns Commoning als erlernbare und gewissermaßen »zeitlose« Praxis bewusst zu machen.
Das Commons zeitlos, also zugleich so alt und modern wie das Musizieren sind, verweist auf eine Schlussfolgerung, die vermutlich viel Gegenwind ernten wird: Commons stellen zahlreiche Prämissen unserer modernen Zivilisation grundlegend in Frage. Hier sei Étienne Le Roy zitiert, der in seinem Beitrag: »Wie ich dreißig Jahre zu Commons forsche, ohne es zu wissen« folgende These wagt: Sobald man anfängt, Commons ernst zu nehmen, »gerät das Ideenfundament, auf dem die moderne westliche Zivilisation ruht, außer Balance, und das fundiert Geglaubte stürzt in sich zusammen: Staat, Recht, Markt, Nation, Arbeit, Verträge, Schulden, Schenken, juristische Person, Privateigentum und Institutionen wie Verwandtschaft, Ehe- und Erbrecht werden plötzlich hinterfragt«.
Zudem bricht die Perspektive der Commons mit der Idee, dass einzelne Individuen und Dinge die bevorzugten analytischen Referenzpunkte sein müssen. Wir brauchen ein Vorgehen, das »mehr als Eins« systematisch berücksichtigt. Der methodische Individualismus trägt so wenig wie das bereits kritisierte Denken in Entweder-oder-Schemen oder die im ökonomischen Mainstream-Denken noch immer verankerte Newtonsche Weltsicht, die mit Vorliebe lineare Kausalitätsbeziehungen herstellt, um daraus Gesetzmäßigkeiten zu behaupten. Am Ende erscheint uns »die Wirtschaft« wie ein vor sich hin tickender Mechanismus, der uns auf mysteriöse Weise entzogen bleibt. Als kämen Menschen darin nicht vor.
Commons fordern uns auf, die Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten und grundsätzlich anzuerkennen, dass ein Ich aus Beziehungen hervorgeht und nur in ihnen und aus ihnen heraus existieren kann. Wer die vielfältigen Wirs und deren komplexe Dynamiken und Eigenlogiken ausblendet, läuft Gefahr, auch eine Erde ohne Atmosphäre für selbstverständlich zu halten. Diese Wirs sind mehr als die Summe von Individuen. Sie entstehen in realer wie virtueller Begegnung und im gemeinsamen Tun. Nur eine Perspektive, der es gelingt, nicht nur von dem auszugehen, was wir angeblich sind, sondern auch im Blick behält, wie wir geworden sind, was wir sind, wird unseren jeweils unverwechselbaren Identitäten, Kulturen und Wurzeln gerecht. Nur eine solche Perspektive kann erfassen, dass wir nicht nur Welt und Wirklichkeit schaffen, sondern dass gleiches auch umgekehrt mit uns geschieht. Nicht nur der Klimawandel zwingt uns zu der Erkenntnis, dass wir unentrinnbar in ein größeres Lebensnetz verstrickt sind, von dem unser Leben und unsere Zivilisation abhängen.
Angesichts der gegenwärtigen Übermacht von den abstrakt gedachten Entitäten Markt und Staat (die längst nicht so alt und dauerhaft sind, wie gemeinhin vermutet), könnte man versucht sein, jedes einzelne Commons als unbedeutendes Staubkorn abzutun. Doch indem das Handeln in Commons, das Commoning, uns mit dem tieferen Kreislauf lebender Systeme verbindet und mit Anderen vernetzt, entfalten sie jene unaufhaltsame Kraft, die systemische Veränderung hervorzubringen vermag.
Wir hoffen, mit diesem Buch zu dieser Vernetzung beizutragen, die Wiederentdeckung der Commons zu beschleunigen und deren Verständnis zu vertiefen – weil sie dem Stillstand und der Verzweiflung unserer Zeit die Stirn bieten.
Silke Helfrich und David Bollier
Literatur
Praetorius, I. (2015): Wirtschaft ist Care, hg. von der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin.
1 | Gemeint ist die Abhängigkeit von der jeweiligen Technologie beziehungsweise vom Hersteller derselben.
2 | Das gilt selbstredend für das Verständnis aller sozialen Phänomene.
3 | In P2P-Netzwerken, die sich als Commons verstehen und commons-basierte Infrastrukturen aufbauen, ist die englische Bezeichnung »community« ebenso üblich wie in den sogenannten »sozialen Netzwerken«, in denen nur der jeweilige kommerzielle Betreiber das Sagen hat und nicht selten das Soziale hemmungslos zu Markte trägt. Letztere haben mit Commons sehr wenig gemein.
4 | Das Thema »Lebendigkeit« behandelte er eingehender in seinem 2005 erschienenen Werk The Nature of Order.
5 | Bei Commons, in denen vorwiegend Wissensbestände produziert und gepflegt werden, gibt es im Grunde kein »Trittbrettfahrerproblem«, wohl aber Vandalismus oder intendierte Störungen. Sie erschweren, dass die jeweiligen Gruppen und Netzwerke ihren Code, ihre Texte, Fotos oder Daten gut verwalten.
6 | Was wir in der Vergangenheit durchaus getan haben.