OpenCourseWare und Open Education
Neue Chancen des Lernens
Die Welt wird zunehmend digitalisiert, doch die meisten Bildungssysteme haben die Möglichkeiten der neuen Technologien noch nicht ausgeschöpft. Die Open-Education-Bewegung versucht diese Lücke zu schließen – über einen einfacheren und günstigeren Zugang zu allen möglichen Lernmitteln wie Bücher, Artikel, Datenbanken, oder Videos. Durch offene Netzwerke und Inhalte ermöglicht Open Education zudem die Interaktion zwischen Studierenden und Lehrenden, die weit voneinander entfernt sind. So ergeben sich ganz neue Möglichkeiten des Lernens.
Open Education basiert auf drei Grundideen: Bildung ist entscheidend für die persönliche und gesellschaftliche Entfaltung; Bildung ist im Kern eine Frage des offenen Teilens und baut auf bereits existierendem Wissen auf; und die Digitalisierung sowie das Internet haben beispiellose Möglichkeiten des Austauschs geschaffen, um Bildung weltweit zu verbessern. Open Education geht es darum, einen gewaltigen Pool an Inhalten, Materialien und Methoden zu schaffen, die für alle zugänglich und verwendbar sind. Die Bewegung hat einen ausgeprägten Sinn für Zusammenarbeit in der Entwicklung neuer Methoden, die auf die Bedürfnisse jedes Lernenden eingehen.
Der Big Bang, der Open Education ans Licht der Welt verhalf, war die Ankündigung des Massachusetts Institute of Technology (MIT) im Jahr 2001, seine gesamten Lehrinhalte für die Welt zu öffnen. Der damalige MIT-Präsident Charles Vest bat ein Komitee von Professorinnen und Professoren zu untersuchen, wie das MIT das Internet nutzen könne, um Wissen und Bildung wirksamer zu verbreiten. Dieses Komitee empfahl der Universität, alle Lehrinhalte, einschließlich der Bachelor-und Master-Kurse sowie der Materialien für Promovierende zu digitalisieren und online zu stellen.1 Das MIT nannte seine Initiative »OpenCourseWare« (OCW).
Der Lehrkörper kam zu dem Schluss, dass es besser wäre, all jenen das Lehrmaterial zur Verfügung zu stellen, die sich damit auseinandersetzen wollten, als ein kommerzielles Online-Bildungsprogramm ins Leben zu rufen, wenn es um die Verbreitung von Wissen und die Förderung von Bildung ging. Zu dieser Zeit etablierte Creative Commons gerade seine standardisierten, öffentlichen Lizenzen, um es den Copyright- bzw. Urheberrechts-Inhaberinnen und -Inhabern zu ermöglichen, den Austausch, die Weiterverwendung und die Bearbeitung urheberrechtlich geschützter Inhalte vorab zu autorisieren.2
Die MIT-OpenCourseWare-Initiative beschloss, Creative-Commons-Lizenzen zu nutzen, um den Nutzerinnen und Nutzern weltweit zu erlauben, ihre eigenen Übersetzungen anzufertigen und alles frei weiter zu verbreiten: von Physikvorlesungen bis zu Mathematikaufgaben.
Schon bald darauf erkannten auch andere Universitäten, wie wirksam diese Art des offenen Teilens für die Weiterentwicklung der Bildungspraxis war, und sie begannen, eigene offene Kurse ins Leben zu rufen. Es entstand ein vielfältiges Angebot von frei zugänglichen Lernmaterialien, das in seiner Gesamtheit als Open Educational Resources (OER) bezeichnet wurde. Menschen aus der ganzen Welt hatten sie geschaffen. Gruppen gründeten sich, um OER in andere Sprachen zu übersetzen, Online-Archive anzulegen und die internationale Zusammenarbeit zu fördern.
Über das Projekt »Open Source Opencourseware«-Prototyp3 wurde die Arbeit von mehr mehr als 2.000 Freiwilligen organisiert und koordiniert, die über 3.500 offene Kurse ins Chinesische übersetzten. An der Rice Universität haben das OER-Commons4 und das Connexions-Projekt – das sich heute Open Stax College5 nennt – zwei der frühesten OER-Archive geschaffen. Zur Unterstützung wurde 2005 das OCW-Konsortium gegründet, das sich 2014 in Open Education Consortium umbenannte. Es ist inzwischen zu einem Verband von hunderten Institutionen und Organisationen der höheren Bildung herangewachsen.
In jüngster Zeit haben auch Regierungen begonnen, offene Bildung zu fördern. Das US-Amerikanische Arbeitsministerium legte 2010 ein Förderprogramm auf, in dem über einen Zeitraum von vier Jahren zwei Milliarden US-Dollar zur Verfügung gestellt werden. Es sollten Bildungsinstitutionen dabei helfen, jene Programme zu verbessern, in denen Qualifikationsangebote für Tätigkeiten gemacht werden, für die es einen hohen Bedarf gibt. Alle Unterrichtsmaterialien, die mit Hilfe dieses Förderprogramms entwickelt werden, müssen offen lizenziert werden. Es ist die erste Regierungsinitiative der Welt, die die Entwicklung und Nutzung von OER finanziert. Auch andere Regierungen bewegen sich nun darauf zu. Im Jahr 2012 hat die UNESCO die OER-Deklaration von Paris formell übernommen.6 Und 2013 hat die Europäische Kommission ein Programm zur Förderung von OER begonnen.7
Als das MIT sein OpenCourseWare-Programm angekündigt hatte, geschah das in der Annahme, dass es zumeist von Lehrkräften genutzt werden würde, die auf der Suche nach guten Unterrichtsmaterialien waren. Doch schnell wurde deutlich, dass die Mehrheit der Nutzerinnen und Nutzer in formelle und informelle Bildungsprozesse involvierte Einzelpersonen waren. Umfragen ergaben, dass jährlich mehr als 400 Millionen Menschen weltweit mit den qualitativ hochwertigen Lernmaterialien arbeiten. Sie tun dies aus den verschiedensten Gründen: um bei ihrer Arbeit eine bessere Leistung zu erbringen, um Fern- und Teilzeitkurse zu unterstützen oder um sich auf ein spezifisches Projekt vorzubereiten. Der Nutzen geht also weit über das ursprünglich Angedachte hinaus.8
Mit jedem Jahr, das verging, wurde die Palette und Vielfalt der Open-Education-Projekte breiter. Indonesien hat eine offene Bildungsstrategie entwickelt, um die teilweise auf der Geografie des Landes beruhende ungleiche Bildungsversorgung auszugleichen. Die Regierung plant, OER einzusetzen, um Lernmittel zu teilen, Lehrkräfte zu schulen, Materialien auf die lokale Gegebenheiten abzustimmen oder Fernunterricht anzubieten. Die Virtuelle Universität von Pakistan9 nutzt OER als einen Weg, um Bildung für alle verfügbar zu machen, hybride Bildungsmodelle an den Universitäten einzurichten und den Studierenden zusätzliche Materialien zur Verfügung zu stellen.
In den USA brechen viele Studierende sogenannter »Community-Hochschulen« ihr Studium ab, weil sie sich die teuren Lehrbücher nicht leisten können. Als Reaktion darauf startete das Maricopa Community College, die größte Community-Hochschule des Landes, das sogenannte Maricopa-Millionen-Projekt. Es möchte in fünf Jahren die Kosten für die Studierenden um 5 Millionen US-Dollar reduzieren, indem OERs verwendet statt traditionelle Lehrbücher gekauft werden. Mit Unterstützung des Centers of Teaching and Learning wählt die Professorenschaft geeignete OER-Materialien für ihre Kurse aus, sodass die Studierenden ohne teure Lehrmittel auskommen. Im Vorlesungsverzeichnis sind diese Kurse dann als »kostenfrei« gekennzeichnet.10
Immer mehr Regierungen nutzen Open Education als eine Möglichkeit, Bildung effektiver und zugänglicher zu machen.11
Das Projekt British Colombia Open Textbook12 entwickelt Dutzende von frei lizensierten Lehrbüchern zu den fortgeschrittensten Themen akademischer Ausbildung. Sie alle werden unter einer Creative-Commons-Lizenz veröffentlicht und sind kostenfrei im Ebook-Format bzw. zum Selbstkostenpreis als Print-On-Demand verfügbar.
Die Open Learning Initiative ist eine gemeinnützige Organisation, die OER nutzt, um Bildung in ländliche und verarmte Regionen dieser Welt zu bringen, von Ruanda bis Nepal.13
Andere Projekte wie Flexible Learning for Open Education spezialisieren sich darauf sicherzustellen, dass Materialien auch für Menschen mit Behinderungen zugänglich sind oder eingesetzt werden können, um Lernende mit anderen Lernpräferenzen zu unterstützen.14
Ob das Potenzial von OER in der Zukunft voll genutzt werden kann, wird davon abhängen, ob sich die Menschen desselben bewusst werden und welche neuen Initiativen sich entwickeln. Um die Möglichkeiten von OER noch sichtbarer zu machen, findet alljährlich eine Open-Education-Woche15 statt, die die Bewegung und ihre Bedeutung für weltweites Lehren und Lernen ins öffentliche Bewusstsein rückt. Viel wurde in den vergangenen vierzehn Jahren erreicht, doch der Schwung den das OER-Projekt bereits erlebt hat, lässt auf eine noch größere und robustere Entwicklung in den kommenden Jahren hoffen.
1 | Für weiterführende Informationen zu OCW am MIT siehe: d’Oliveira, C., St. Carson, K. James und J. Lazarus: »MIT OpenCourseWare: Unlocking Knowledge, Empowering Minds«, Science, Vol. 329, Nr. 5991, 30. Juli 2010, S. 525-526, www.sciencemag.org/content/329/5991/525.full.
2 | Einen guten Überblick über die Geschichte von Creative Commons bietet: www.wired.co.uk/news/archive/2011-12/13/history-of-creative-commons (Zugriff am 30. März 2015).
3 | In Chinesischer Sprache: www.myoops.org/twocw (Zugriff am 30. März 2015).
4 | Siehe: www.oercommons.org (Zugriff am 30. März 2015).
5 | Siehe: http://cnx.org (Zugriff am 30. März 2015).
6 | Die Pariser Erklärung in deutscher Sprache: www.unesco.org/new/fileadmin/MULTIMEDIA/HQ/CI/CI/pdf/Events/oer_declaration_german_rev.pdf (Zugriff am 30. März 2015).
7 | Siehe: www.openeducationeuropa.eu (Zugriff am 30. März 2015).
8 | Beispiele zu Nutzerprofilen sind hier zu finden: www.oeconsortium.org/projects/surveyresults/www.oeconsortium.org/wp-content/uploads/2013/11/OCW-User-Feedback-Report_Final_May-2013.pdf (Zugriff am 30. März 2015).
9 | Siehe: http://ocw.vu.edu.pk (Zugriff am 30. März 2015).
10 | Siehe: https://www2.maricopa.edu/welcome-to-the-maricopa-millions-oer-project (Zugriff am 30. März 2015).
11 | Beispielsweise Open Scotland: http://openscot.net oder OpeningUp Slovenia www.k4all.org/openingupslovenia/ (Zugriff am 30. März 2015).
12 | http://bccampus.ca/open-textbook-project (Zugriff am 30. März 2015). Das Projekt wird vom Bildungsministerium finanziert und vom BC Campus verwaltet.
13 | Siehe: www.ole.org (Zugriff am 30. März 2015).
14 | Siehe: http://floeproject.org (Zugriff am 30. März 2015).
15 | Siehe: www.openeducationweek.org (Zugriff am 30. März 2015).