Eine Odyssee mit klarem Ziel
Mataroa und die Commons von Ikaria
Unsere Geschichte begann, als ich 2006, während meiner Feldstudien auf der griechischen Insel Ikaria in der Ägäis, eine Anhalterin mitnahm: Frosini Koutsouti. Gleich zu Anfang unseres Gesprächs stellten wir fest, dass sich nun zwei Anthropologinnen den Wagen teilten. Es war der Beginn einer Unterhaltung über Commons, die bis heute anhält. Und es war der Beginn unseres Versuchs, gemeinsam zu ergründen, wie Commons mit dem Land und der lokalen Kultur verknüpft sind. Was bedeuten sie für die Menschen? Was passiert, wenn diese den Zugang zu ihren Commons verlieren? Welche Auswirkungen hat es auf die lokale Kultur, wenn Commons eingehegt werden?
Zwei Jahre nach unserer ersten Begegnung, als die Finanzkrise von 2008 gerade Wirkung entfaltete, war die politische Tagesordnung in Griechenland bestimmt von der Einhegung natürlicher und sozialer Commons sowie der Privatisierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen. Im Namen einer »grünen Entwicklung« hatte die Regierung eng mit privaten Unternehmen zusammengearbeitet, um entlang der Bergrücken der meisten Ägäischen Inseln Windparkanlagen zu errichten. Auch ein neuer Landnutzungsplan wurde verabschiedet, in dem die Nutzung von Grund und Boden derart neu definiert wurde, dass sie mit der traditionellen Landnutzung nicht vereinbar war. Das vielleicht charakteristischste Beispiel hierfür war die Umwidmung einiger bisher traditionell als Weideland genutzter Flächen in »Industriegebiete«.
Im Jahr 2012 verkündete die Regierung ihre Entscheidung, das Krankenhaus von Ikaria jenem der nahegelegenen Insel Samos anzugliedern. In Folge dessen verschlechterten sich Qualität und Umfang der Gesundheitsversorgung auf der Insel. Diese und andere Maßnahmen, die die Kommodifizierung des Gesundheitswesens vorantrieben, drohte die Grundidee zunichte zu machen, welche 1958 die Ikarianer bewogen hatte, das Panikarianische Krankenhaus gemeinsam zu bauen: nämlich allen Bewohnerinnen und Bewohnern der Insel gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu gewähren. Für die 8.000 Menschen war eine solche Gesetzgebung zur ernsthaften Bedrohung ihrer Lebensweise geworden.1
Frosini Koutsouti und ich wurden uns bald der Tatsache bewusst, dass Ikaria so etwas wie ein »Laboratorium des wirklichen Lebens« für einige Schlüsselthemen unserer Zeit war. Hier ließen sich verschiedene Einhegungen beobachten, aber auch der Widerstand der Menschen sowie ihr Versuch, Commons wieder einzufordern oder neue, innovative Commons zu entwickeln. Doch wie konnten wir all dies erforschen und dokumentieren? Uns war klar, dass ein solches Forschungsvorhaben nicht neutral sein konnte, so als könnten die Forschenden abseits der Bemühungen der Menschen vor Ort stehen. Wir konnten auch die globalen neoliberalen Kräfte nicht ignorieren, die die Bürger mit Macht in Konsumenten von Gütern verwandeln, deren Produktion wiederum auf rücksichtslosen Einhegungen beruht.
Wir gründeten schließlich eine nicht gewinnorientierte Organisation, die unsere Arbeit tragen sollte: das Dokumentations-, Forschungs- und Aktions-Zentrum von Ikaria (DRACOI). Ivan Illichs Interkulturelles Dokumentationszentrum, das er 1961 in Mexiko eingerichtet hatte, war uns eine wichtige Quelle der Inspiration. Wir wollten die Rolle dokumentieren, die das Konzept der »Entwicklung« bei der Zerstörung lokaler Kulturen spielt, für das Verschwinden traditioneller Lebensweisen und als Ursache von Armut. Genau wie Illich begannen wir mit den verschiedenen Dorfgemeinschaften vor Ort zusammenzuarbeiten, mit Aktionsgruppen, Kooperativen und anderen. Unser Ziel bestand im Schutz fundamentaler Menschenrechte wie gleicher Zugang zu Gesundheit, Bildung und Trinkwasser. Außerdem wollten wir die Commons sozusagen als Vergrößerungsglas nutzen, um größere politische und sozio-kulturelle Veränderungen zu verstehen.
Wir begannen zu begreifen, dass die lokalen Reaktionen auf Einhegungen nicht nur als isolierte Momente des Widerstands gegen eine neoliberale Welle »gelesen« werden mussten, sondern auch Teil eines längeren historischen Einhegungsprozesses waren, der im spätmittelalterlichen England und andernorts seinen Ursprung nahm. Lokaler Widerstand stand also im Kontext jener »Doppelbewegung«, die schon der Wirtschaftsanthropologe Karl Polanyi beschrieben hatte. Die von der Marktökonomie getriebenen Einhegungen, so erklärte er, lösen unausweichlich Gegenbewegungen aus und zwar von Menschen, die das Verlorene wieder einfordern oder neue Commons schaffen. In diesem Licht betrachtet, ähneln die Ideale einer »grünen Entwicklung«, die heute als »Lösung« für die Krise propagiert werden, den »Verbesserungen« im Großbritannien des 19. Jahrhunderts, die eine anhaltende Einhegung natürlicher und bürgerlicher Commons erfordern (Esteva 1992).2
Während unserer Reise durch das schier endlose Meer von Literatur, Aktivitäten und Dialogen zu Commons-Themen, sind wir Denkern begegnet, die sich mit den für unsere Fragen und Ziele relevanten Aspekten bereits auseinandergesetzt haben. Sie alle haben unseren Navigationshorizont erweitert. Einige wurden zu Passagieren, die uns auf der gemeinsamen Reise begleiteten; manche nur für kurze Zeit, andere blieben länger. Zudem gingen wir an Bord größerer »Schiffe«, ein solches war das »Mataroa-Seminar«; benannt nach einem historischen Schiff, das im Dezember 1945 von Griechenland aus in See gestochen war. An Bord waren junge Wissenschaftler, Studierende und Künstler, die im Laufe ihres Lebens viel zu den Ideen und Visionen beigetragen haben, die in den Ereignissen vom Mai 1968 ihren Höhepunkt fanden. Unsere Idee war nun die Rückkehr eines imaginären Schiffs nach Griechenland, mit jenen Konzeptionen und Ideen an Bord, die für ein kritisches und radikales Verständnis der gegenwärtigen Realität notwendig waren. Dies waren die Konzeptionen von Krise, Commons und ihrer Einhegungen sowie die Idee einer »Mediterranen Vision«.3
Im Jahr 2013 »lief« das Mataroa-Seminar in den Hafen von Ikaria ein und brachte siebenundzwanzig Forscherinnen, Forscher und Commoners aus dem Mittelmeerraum und darüber hinaus zusammen. Die Teilnehmenden hatten sich gegenseitig auf die Einladung aufmerksam gemacht, einige hatten durch das entsprechende Blog vom Seminar erfahren (mataroanetwork.org). Alle empfanden die Seminarkonzeption als fruchtbar, um viele verschiedene Geschichten zusammenzubringen. Und alle stimmten darin überein, dass es notwendig sei, die Idee der »Krise« kritisch zu analysieren. Sie sei nicht als objektive Bedingung der derzeitigen Realität zu sehen, sondern als machtvoller Diskurs der »VerAnderung« (»othering«)4 und somit als wirkungsvolles Mittel, eindeutige Verletzungen des Gesellschaftsvertrags sowie der Menschenrechte zu legitimieren.5 Die Frage, die die »Mataroaner« aufgeworfen hatten, war, ob es gelingen könnte, die wichtigsten Elemente eines Entwurfs zu identifizieren, der in der Lage wäre, den Kapitalismus herauszufordern. Könnten wir uns eine Welt vorstellen, die die Quellen des Lebens schützt und regeneriert, anstatt immer mehr Aspekte des Lebens lediglich als Kategorien von Markt und Entwicklung zu betrachten? Könnten wir herausfinden, ob ein solcher »mediterraner Entwurf« existiert, der dem Hobbesianischen »Krieg aller gegen alle« entgegen steht; ob eine Vision existiert, die von zentralen Werten wie »Geben« und »Konvivialität«6 innerhalb kommunaler Institutionen, familiärer und freundschaftlicher Bindungen geprägt ist?
Das Seminar kam ohne jedes Budget zustande und basierte vollständig auf der »Schenkökonomie« der Ikarianerinnen und Ikarier, die die Teilnehmenden unterbrachten und bewirteten. Diese Schenklogik bestimmte auch die Organisation des Seminars, das sich für die lokale Bevölkerung durch eine Vortragsreihe »öffnete«, um aktuelle Themen des Mittelmeerraums sowie solche, die für die Erfahrungen der Ikarianer relevant waren, zu behandeln. Einige Mataroaner diskutierten über die Volkserhebungen in Ägypten, der Türkei und in Kentucky. Andere sprachen über die internationalen Erfahrungen im Zusammenhang mit der Privatisierung der Wasserversorgung, wieder andere über das »Degrowth«-Konzept.
Quelle: Wikipedia
Das Mataroa-Seminarschiff verließ den Hafen von Ikaria mit unbekanntem Kurs in die Gewässer neuer Initiativen. Auf der Reise entstand eine Fülle von Materialien, die unter der Creative-Commons-Lizenz BY-SA (Copyleft) frei nutzbar sind. Als Gegengabe für unsere Gastgeber in Ikaria haben die Beteiligten der Mataroa-Initiative eine Publikation zusammengestellt, die den Dialog über die Commons dokumentiert.7 Statt einfach die Protokolle zu publizieren, entstand hier eine Sammlung von Essays, die die Reflexionen fortsetzten, die die öffentlichen Vorträge entfacht hatten. Wir luden Bürgerinnen, Bürger und Gruppen ein, die gegen die Kommerzialisierung natürlicher Ressourcen und die Privatisierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen kämpfen. Darunter waren Menschen wie der stellvertretende Vorsitzende des lokalen Verbandes der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Krankenhauses von Ikaria oder von »SOS Chalkidiki«, einem Bündnis von Gruppen, die sich gegen die Planung eines Goldbergwerks wehren.
Diese Erfahrungen brachten uns zu der Überzeugung, dass, wenn wir den Begriff der Commons in unser analytisches Epizentrum stellen, es keinen anderen Weg gibt, als dies in Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort zu tun, im Kontext ihrer Lebenswirklichkeit, ihrer eigenen Wertesysteme sowie der wirtschaftlichen- und gesellschaftlichen Verhältnisse. Politisch engagierte Forschung muss die Ko-Konstruktion und den Austausch von Wissen so erleichtern, dass es die Menschen stärkt und ihnen neue Mittel in die Hand gibt, die ihren Existenzkampf leichter machen.
Die Reise im weiten Ozean der Commons geht weiter. Neue Initiativen mit neuen Partnern und alten Freunden sind geplant.8 Das Unterfangen, eine Methode der Commons zu entwickeln hat gerade erst begonnen.
Literatur
Bareli, M. (2014): »Facets of crisis in a Greek island community: The Ikarian case«, in: Practicing Anthropology, Vol. 36, Nr. 1, Winter 2014, S. 21-27.
Esteva, G. (1992): »Development«, in W. Sachs (Hg.): The Development Dictionary: A Guide to Knowledge as Power, London, UK, Zed Books, S. 6-25.
Stiglitz, J. E. (2001): »Foreword«, in: K. Polanyi: The Great Transformation: The Political and Economic Origins of Our Time, Boston, Beacon Press, S. vii-xvii.
1 | Für eine Beschreibung der Diskurse auf der Insel und der Sicht der Bewohnerinnen auf die Krise siehe Bareli 2014.
2 | Vergleiche zur Kritik am Entwicklungsparadigma den Beitrag von Arturo Escobar in diesem Band (Anm. der Hg.).
3 | Die Idee zum »Mataroa-Sommerseminar« auf Ikaria stammt von Nikolas Kosmatopoulos. Das Seminar trug den Titel: »Gegen die Krise. Für die Commons. Auf dem Weg zu einem Mediterranen Entwurf«.
4 | Der Begriff bezeichnet den Prozess der Differenzierung und Distanzierung der Gruppe, der man sich zugehörig fühlt (Eigengruppe), von anderen Gruppen und wurde von Gayarti Chakravorty Spivak geprägt. Eine allgemein gebräuchliche deutsche Übersetzung existiert bislang nicht. Julia Reuter hat, in Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden, transcript Verlag, Bielefeld, »othering« als »VerAnderung« übersetzt. Diesem Vorschlag folgen wir (Anm. der Hg.).
5 | Siehe zum Beispiel den Bericht der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte und ihres griechischen Zweigs, der Hellenischen Liga für Menschenrechte, zur Abwertung der Menschenrechte als Folge der Sparpolitik in Griechenland vom Dezember 2014: https://www.fidh.org/International-Federation-for-Human-Rights/europe/greece/16675-greece-report-unveils-human-rights-violations-stemming-from-austerity (Zugriff am 29. März 2015).
6 | Siehe dazu den Beitrag von Marianne Gronemeyer in diesem Band (Anm. der Hg.).
7 | Unterstützt wurden wir vom Team des digitalen Lokalmagazins ikariamag.gr, dem wir dankbar sind.
8 | Das Dialogprojekt fand mit der Zeitschrift Esto seine Fortsetzung, einer vierteljährlichen Publikation einer Initiative von der Insel Kefallonia, die die Gründung einer »freien Universität« anstrebt.