Der Kartoffelpark in Peru
Nur eine Autostunde nordöstlich von Cusco in Peru trifft man auf idyllische Bergseen, die Ruinen der Inka sowie die weltweit größte Vielfalt an Kartoffeln. Hier werden etwa 2.300 der 4.000 uns bekannten Kartoffelsorten angebaut, was die Region zu einer der agridiversesten, also landwirtschaftlich vielfältigsten der Welt macht. Die circa 7.000 Quechua, die dieses hochgelegene heilige Tal der Inka bewohnen, kultivieren und veredeln ihre Kartoffeln, so wie es ihre Vorfahren bereits seit 7.000 Jahren getan haben. Es ist eine beeindruckende Leistung, die einer ganzheitlichen Lebensweise entspringt, in der sich eine tiefe spirituelle Tradition, kulturelle Werte, landwirtschaftliche Techniken, verschiedene Formen des sozialen Austausches sowie ökologische Verantwortung miteinander verbinden.
Kartoffeln sind ein zentrales Element der Quechua-Kultur. Als eine Reporterin der Zeitschrift Gourmet die Region besuchte, entdeckte sie mit Erstaunen, dass »offenbar jede Kartoffel für einen speziellen Zweck oder eine spezielle Zeremonie Verwendung fand: Es gab Kartoffeln, die bei Taufen gegessen wurden, eigene Kartoffeln für Hochzeiten, wie die ›Brautkartoffel‹, und solche für Begräbnisse. Kartoffeln wie die rote »Moro boli« sind reich an Antioxidantien, während andere, wie die bananenförmige »Ttalaco«, entweder eingeweicht oder gedämpft werden müssen oder zu Alkohol verarbeitet werden.« Einige Knollen wachsen nur an Steilhängen in über 4.000 Metern Höhe. Andere sind nahezu überall anbaubar. Es ist ganz normal, dass auf dem Feld eines einzigen Bauern hunderte verschiedene Sorten wachsen, darunter auch echte Raritäten.
Die sechs Dorfgemeinschaften sagen von sich selbst, dass sie in einer Beziehung der Gegenseitigkeit mit dem Land, untereinander und mit der spirituellen Welt leben. Diese Lebensweise wird »ayllu« genannt, ein politisches, ökonomisches und soziales System, in dem »Individuen mit gemeinsamen Interessen und Zielen Normen und Prinzipien in Bezug auf den Umgang mit Menschen, Tieren, Steinen, Geistern, Bergen, Seen, Flüssen, Weiden, Nahrungspflanzen, der umgebenden Natur usw. miteinander teilen«, schreiben Alejandro Argumedo und Bernard Yun Loong Wong (Argumedo/Loong Wong 2010, Argumedo 2008)1. Die Menschen versuchen, das »ayllu« der Runas (der Menschen, ihrer Haustiere sowie Nutzpflanzen), der Sallaka (der Wildpflanzen und Tiere) sowie der Auki Ayllu (der heiligen Wesen und der Schutzgeister der Berge) in ein Gleichgewicht zu bringen. In diesem Weltverständnis begreifen sie die Kartoffeln, Nahrungsmittel, Tiere und die ganze lebendige Natur als Geschenk der Erde. Es sind Gaben, für die sie etwas zurückgeben müssen, die sogenannten »pagos«. Das spirituelle Verhältnis zur »pachamama«, der Mutter Erde, ist ein Schlüsselfaktor des tiefen Respekts der Quechua angesichts der Großzügigkeit und Vielfalt der Erde, aber auch ihrer Begrenztheit. »Das wichtigste Ziel von ayllu«, erklären Argumedo und Loong Wong, »ist das Gute Leben, das bei den Quechua Sumak Kawsay heißt.« Es bedeutet kurzgefasst, in einer ausgeglichenen und gesunden Beziehung mit »pachamama« zu leben.
Die Quechua betreiben Landwirtschaft nicht, um ihre Erträge zu maximieren und sie auf dem Markt gewinnbringend zu verkaufen. Vielmehr geht es ihnen darum, gewissenhaft den Prinzipien des »ayllu« zu folgen, dem Herzstück ihrer stabilen, regenerativen agroökologischen Praxis, die sich in dieser andinen Landschaft entwickelt hat. In der Region mit ihren unterschiedlichen Höhenlagen herrschen auf kleinstem Raum viele verschiedene Mikroklimata. So wachsen, berichtet Argumedo, auf den Hochebenen Kartoffeln und Quinoa, in den tiefer liegenden Tälern Mais, und auf den höher gelegenen Weideflächen grasen Lamas.
In den vergangenen Jahrzehnten haben transnationale Biotech- und Agrarkonzerne immer wieder versucht, sich anzueignen und zu Waren zu machen, was derartig besondere Ökosysteme hervorbringen; sie melden etwa Patente auf Saatgut oder Gensequenzen an. Häufig zahlen sie den traditionellen Dorfgemeinschaften etwas Geld, oder sie vertreiben sie einfach und zerschlagen die traditionellen Formen der Landwirtschaft. Regionen mit hoher Biodiversität gehören zu den bevorzugten Revieren solch unternehmerischer Beutezüge, die durch Biopiraterie genetische und materielle Ressourcen, welche seit Generationen als Commons behandelt wurden, zu privatisieren suchen.
Um diese Einhegung ihrer gemeinsamen Ressourcen zu verhindern, hat sich die indigene Bevölkerung des Cusco-Tales in den 1990er Jahren mit der Nichtregierungsorganisation ANDES2 zusammengetan und eine neue, von der indigenen Praxis ausgehende Rechtsform geschaffen: die Indigenous Biocultural Heritage Area (IBCHA).3 Die Idee entstand im Jahr 2000; es sollte eine speziell auf die Situation der Quechua und des Kartoffelparks zugeschnittene rechtliche Handhabe geschaffen werden, die auf der Anerkennung der indigenen Praktiken zum Umgang mit dem Biokulturerbe, dem Erhalt der lokalen Kartoffelvielfalt und dem Schutz des sensiblen Ökosystems beruhte (Argumedo 2008: 49-57).
Die Dorfgemeinschaften richteten eine geschützte agro-ökologische Region ein, den Parque de la Papa, den »Kartoffelpark«, mehr als 12.000 Hektar Land, die sie für die Agrodiversität der Pisaq-Region sowie für den Erhalt ihrer traditionellen Kultur, ihres Wissen und ihrer Lebensweise als wesentlich erachteten. Der Kartoffelpark ist ein Modell für einen gemeinschaftsbasierten und rechtlich verankerten Umweltschutz, das sich von einem anderen »Entwicklungs-«Verständnis leiten lässt als konventionelle, marktorientierte Modelle.4 Der Kartoffelpark wird von allen beteiligten Dörfern gemeinsam verwaltet, jedes Dorf wählt eine Vertreterin oder einen Vertreter zur Mitarbeit im Verein. Besonderes Augenmerk wird darauf gelegt, traditionelle spirituelle Werte und Praktiken in die alltäglichen Tätigkeiten und Entscheidungen im Kartoffelpark zu integrieren.
Im Rahmen der IBCHA-Vereinbarung haben die zum Kartoffelpark gehörenden Dörfer zugestimmt, einen Teil der »lebenden Bibliothek« ihres Wissens über die genetische Vielfalt der Kartoffeln mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu teilen. Durch ein spezielles Abkommen mit dem internationalen Kartoffelzentrum (CIP) – einer Non-Profit-Organisation für Ernährungssicherheit, die mit der Beratungsgruppe für Internationale Agrarforschung (CGIAR) zusammenarbeitet – hat der Kartoffelpark mehr als 200 seiner 900 lokalen Sorten an die Forschung weitergegeben. Er unterstützt zudem Versuche, neue Sorten zu entwickeln, etwa solche, die widerstandsfähig gegen klimatische Veränderungen sind. Die Mitglieder des Kartoffelparks haben darüber hinaus Interesse, die Kartoffelsorten wieder anzusiedeln, die durch die modernen Methoden der Landwirtschaft verloren gegangen sind. Jegliche Patentierung genetischer Informationen lehnen sie ab, weil sie glauben, dass Kartoffeln heilig sind und allen gehören und die Patentierung mit privaten Eigentumsrechten nicht vereinbar ist. Das IBCHA-Abkommen wird von vielen als Modell für eine andere agrarökologische Kultur angesehen. Einerseits erkennt es den genuinen Rechtsanspruch der Bevölkerung an, über die Nutzung der Kartoffeln selbst zu bestimmen, und andererseits ermöglicht es sowohl moderne Forschung als auch die lokale wirtschaftliche Nutzung der Artenvielfalt.
Der Kartoffelpark erfüllt damit nicht nur die Funktion, die Kultur der Quechua zu erhalten und die wissenschaftliche Forschung zu unterstützen, sondern er bietet auch Raum für sozial und ökologisch verträgliche Formen wirtschaftlicher Entwicklung, wie etwa durch Ökotourismus, die Herstellung von Nahrungsergänzungsmitteln oder pharmazeutischen Produkten. Im Kartoffelpark gibt es einen Verarbeitungsbetrieb für Naturheilmittel und Seifen, ein Netzwerk lokaler Arzneimittelhändler und ein Zentrum für Videokommunikation. Es gibt ein offizielles Register der Biodiversität des Parks sowie eine eigene Handelsmarke mit rechtlich geschützter geographischer Herkunftsbezeichnung, was der indigenen Bevölkerung die Autorität über die wirtschaftliche Nutzung der lokalen genetischen Vielfalt sichern sollen (Argumedo/Pimbert 2005: 11). Frauen spielen eine Schlüsselrolle in den zahlreichen ökonomischen Aktivitäten des Verbandes der Dorfgemeinschaften im Kartoffelpark. Da gibt es etwa das »Sipaswarmi Frauenkollektiv für Medizinalpflanzen«, das Naturheilmittel und Seifen verkauft, oder die Frauenkooperative für Audio-Visuelle Medien »Tijillay T’ika«, die Videos über lokale Ressourcen in indigenen Sprachen produziert.
Auch wenn der Kartoffelpark weder durch die peruanische Gesetzgebung noch durch seine Mitgliedschaft in der Internationalen Union zur Bewahrung der Natur und natürlicher Ressourcen (IUCN) staatliche Anerkennung genießt, bedeutet das nicht, dass der Verein nicht rechtlich abgesichert wäre. Die IBCHA-Vereinbarung ist mit bestehendem nationalem und internationalem Recht kompatibel; sie soll ähnlichen Projekten entlang der »Route des Kondors«, einem dem Andenverlauf von Venezuela bis Argentinien folgendem Landstrich mit großer Sortenvielfalt,5 als Vorbild dienen. Einige Instrumente und Aktivitäten des Kartoffelparks haben schon rechtliche Bedeutung erlangt, etwa das Forschungsabkommen mit dem CIP oder die Datenbank des Kartoffelparks, die genutzt werden kann, um die Anmeldung von Patenten für Heilpflanzen oder indigenes Wissen zu verhindern.
Einige der wichtigsten Gesetze sind nicht formal oder vom Staat erlassen, sondern sie basieren auf dem Gewohnheitsrecht und der Tradition, in dessen Rahmen die agroökologischen und biokulturellen Praktiken lokal organisiert und umgesetzt werden und zwar so, wie das eine staatliche Gesetzgebung niemals vorgeben könnte. Das IBCHA-Abkommen ist ein Versuch, beide Rechtssysteme miteinander zu verbinden. Die nationale Gesetzgebung dient hierbei dazu, das kontextbezogene Gewohnheitsrecht anzuerkennen, so dass generationenübergreifendes Wissen und die dazu gehörenden Praktiken als rechtsgültig und praxiswirksam anerkannt werden können.
Schließlich ist die Kultur des Commoning der Quechua der zentrale stabilisierende Faktor. In der Ortschaft Chawaytire gibt es das Biorestaurant Papamanke, das von einer Frauenorganisation betrieben wird, die sich als die Hüterinnen indigener Traditionen und Rezepte verstehen. Sie sind auf dieses Erbe stolz und geben über das Restaurant das indigene Brauchtum weiter, ohne sich dem Tourismus anzubiedern. Als die Reporterin des Gourmet eine Kellnerin bat, eine der Kartoffeln aufzuschneiden, damit sie die Farbe sehen könne, lehnte diese mit der Begründung ab, eine Kartoffel anzuschneiden, ohne sie zu essen, sei eine Beleidigung für »pachamama«.
Diese Ehrerbietung, die dem modernen Denken irrational erscheinen mag, ist einer der Hauptgründe, warum die Quechua in der Lage waren, ihre biokulturelle Tradition sowie das verletzliche Ökosystem zu erhalten. Der Erfolg des Kartoffelparks wirft die Frage auf, ob nicht eher jene »Rationalität« auf den Prüfstand gehört, die meint, ein System biokultureller Vielfalt könnte in Gewinnerwartung geplündert werden.
Literatur
Argumedo, A. (2008): »The Potato Park, Peru: Conserving agrobiodiversity in an Andean Indigenous Biocultural Heritage Area«, in: Amend, T., et al. (Hg.): Protected Landscapes and Agrobiodiversity Values. Band I der Reihe, Protected Landscapes and Seascapes, IUCN & GTZ, Heidelberg, Kaspareg Verlag.
Argumedo, A., und B. Y. Loong Wong (2010): »The Ayllu System of the Potato Park, Cusco, Peru«, Satoyama Initiative, United Nations University Institute of Advanced Studies, 5. März 2010, http://satoyama-initiative.org/en/the-ayllu-system-of-the-potato-park.
Argumedo, A., und M. Pimbert (2005): Protecting Indigenous Knowledge Against Biopiracy in the Andes, London, IIED.
1 | Ein großer Teil der zu diesem Beitrag herangezogenen Informationen und Zitate stammt aus diesen Beiträgen.
2 | ANDES ist das spanische Kürzel für »Quechua-Aymara Verein für nachhaltige Gemeinden«. Diese gemeinnützige, peruanische Organisation setzt sich für die Verteidigung der Rechte der indigenen Bevölkerung auf Zugang zu genetischen Ressourcen, genetischem Wissen und zur Umwelt ein.
3 | Etwa: eine Region mit indigenem, biokulturellem Erbe.
4 | Siehe auch den Beitrag von Arturo Escobar in diesem Buch (Anm. der Hg.).
5 | Siehe: http://cipotato.org/genebank-2/ruta-condor/ (Zugriff am 16. März 2015).