Die Welt der Commons

Muster des gemeinsamen Handelns

Intermezzo I

Andere Selbstverständlichkeiten in die Welt bringen

Silke Helfrich und David Bollier

Schlussendlich sind wir, was wir tun, um zu verändern, wer wir sind.

Eduardo Galeano

Commons liegen nicht in den Dingen, sondern sie entstehen in unserem Tun. Das hat Teil I dieses Bandes deutlich gemacht. Im Sinne der Commons zu handeln ist voraussetzungsvoll und verlangt den Beteiligten mindestens dreierlei ab:

Zunächst den einfachen Gedanken, dass die Elemente, Dinge und Ideen, aus denen Commons entstehen, nicht einer Person allein gehören.

Zudem ein Verständnis davon, dass die Verhältnisse zwischen allen an einem Commons Beteiligten nicht linear-hierarchisch zu denken sind. Es gibt Beziehungen in Verschiedenheit, was das Bestehen auf formale Gleichheit oft erübrigt. Ein solches Grundverständnis hat für Gehalt und Form von Institutionen, Abläufen und Gesetzen erhebliche Konsequenzen; denn es geht immer und immer wieder um die jeweils konkrete Situation samt ihres Eingebettetseins in Raum und Zeit und samt ihrer Verstrickungen in Geschichten, Gewohnheiten und Verfügbarkeiten von Wissen und Ressourcen.

Schlussendlich ist zu erkennen, dass prinzipiell offen ist, ob der soziale Prozess des Commoning gelingt. Das wiederum verbindet sich mit der Zumutung, das eigene Tun immer wieder neu zu reflektieren und zu »justieren«. Über immer gleiche Routinen werden Sie auf den folgenden Seiten also praktisch nichts erfahren. Kollektive Selbstverständigung nebst individueller Selbstvergewisserung sind an der Tagesordnung.

So weit, so lebensnah. Aus einer Praxis, die auf solchen Grundlegungen fußt, können andere Selbstverständlichkeiten hervorgehen. Sie in die Welt zu bringen ist nicht nur eine Denkaufgabe, sondern konkretes, alltägliches Tun: Commoning! Dabei wird vielfach Nützliches hergestellt – zum Essen, Kleiden, Fortbewegen, Heilen, Helfen, Maschinen bauen und zur Selbstbefähigung. Das beschreiben die Beiträge des folgenden Kapitels. Zugleich aber – und das scheint uns entscheidend – erfahren sich die Menschen in diesem Tun selbst als Commoner. Als das, was sie werden, wenn sie Commons pflegen, verteidigen oder in die Welt bringen. Und indem sie dies tun, geben sie nicht nur einleuchtende, sondern auch nachahmenswerte Antworten auf die Frage des »Occupy Wall Street«-Mitinitiators David Graeber: »Wir stehen jeden Morgen auf und machen Kapitalismus. Warum machen wir nicht mal was anderes?«

In diesem unentwirrbar miteinander verknüpften Handeln und Erfahren, das wir Commoning nennen, werden Bedeutungen entworfen, die über das bislang Selbst-Verständliche hinaus weisen. Sie prägen, wer sie sind, durch die unersetzliche Erfahrung der Gestaltbarkeit von Gegenwart und Zukunft – jenseits von Markt und Staat. Denn in Commons geht es weder darum, sich gegen Andere durchsetzen zu müssen, noch darum, abstrakte Entwicklungs- und Wachstumsziele zu erfüllen. Das macht die rund 50 Projekte und Initiativen so bedeutsam, die wir im folgenden Kapitel vorstellen. Sie erweitern unsere Freiheit wie unsere Verantwortung, indem sie offene und für alle nutzbare Werkzeuge, Verfahren und Plattformen entwickeln, aus eingefahrenen Denk- und Handlungsmustern aussteigen und Problemlösungsoptionen anbieten, die für mehr Unabhängigkeit von Wohl und Wehe »des Marktes« sorgen.

All diese Praktiken und Experimente brauchen geeignete Orte, Freiräume und Schutz. In marktlogikdurchwirkten Umgebungen ist dies nicht immer leicht zu finden. Oft muss Freiraum zunächst erkämpft, erweitert oder schlicht »zurückgeholt«, mitunter auch erkauft werden. Hierfür stehen stellvertretend die Berichte über Terre de Liens (Frankreich), das Teatro Valle (Italien) oder die Wasserkomitees in Cochabamba (Bolivien).

Dass das prinzipiell in allen Lebensbereichen geschehen kann, weshalb wir die Bezeichnung »Omni-Commons« mögen, ergibt sich schon aus rascher Durchsicht der Beitragsvielfalt. Manche berichten von jahrhundertealten Erfahrungen (langlebige Commons); andere stecken noch in der Kompositionsphase oder wurden erst durch Kommunikationstechnologien ermöglicht, die selbst kaum zwei Jahrzehnte zählen, etwa Farm Hack, Open Spim oder die Kartierungsprojekte. Mit Cecosesola und der Cooperativa Integral Catalana werden schließlich zwei Entwürfe skizziert, sehr viele Lebensbereiche gemeinschaftlich zu verantworten, um darin selbst mehr Freiheit zu gewinnen.

Klar ist: Wir blicken im folgenden Kapitel nicht zwingend auf das, was »rein« als Commons gedacht, konzipiert und umgesetzt ist, was schon daraus folgt, dass alle Projekte in den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen existieren. Wir blicken auf eine Welt von Widerständen, Experimenten und herausfordernden Kontexten, die mehr oder weniger commons-freundlich sind. Zusammengenommen vergegenwärtigen sie uns, was möglich wird, wenn wir die Welt als Commons denken: das Entstehen anderer Selbst-Verständlichkeiten, wenn und indem sie einübend immer wieder neu hervorgebracht werden. In den Beiträgen des Abschnitts »Lernen als Commons« wird dies veranschaulicht: Commoning heißt zu wissen (»knowing«) und zum Wissen (»knowledge«) kommen. Beides wird allmählich zu Gewissheiten gerinnen und ermöglichen, gewohnte Denkschemata und Bezugssysteme zu verlassen.

Davon ausgehend wird es künftig darum gehen, emanzipatorische Kategorien für das »Ganze des Lebens« (Brigitte Kratzwald) und das Ganze der Gesellschaft auf Grundlage von Commons herauszuschälen. Das ist die theoretische Herausforderung für eine Commons-Theorie, die sich anschickt, sich aus den trennenden Kategorien des Alten zu lösen, die unser Weltbild beherrschen. Denn eines fällt auf: Trotz der kulturellen und politischen Verschiedenheiten sowie des unterschiedlichen Reflexionsstandes innerhalb der Projekte bezüglich der Commons-Idee spielen so geläufige Kategorien wie Privateigentum, Kapital, Geld, Profit, Lohnarbeit nirgends die Hauptrolle; vielmehr mutieren sie zu Behelfskategorien, zu Marginalien oder gelten schlicht als das, was es zu vermeiden und zu untergraben gilt.

Auffallend war während der Arbeit an den folgenden Texten, dass viele Protagonistinnen und Protagonisten die uns interessierenden Dinge nicht für erwähnenswert hielten. Es war ihnen selbstverständlich, nicht aber den ersten Leserinnen und Lesern. Mehr als einmal (und bei weitem nicht ausreichend) erfuhren wir Interessantes aus der täglichen Praxis erst in der Diskussion der Textentwürfe: wie Entscheidungen gefällt werden, wie mit Konflikten umgegangen wird, wie das Verhältnis zum Staat aussieht oder was ein Projekt an seine Grenzen bringt. Nicht immer konnten wir diese Fragen ausdiskutieren, und noch weniger war es uns möglich, alle Einzelheiten in der gebotenen Kürze darzustellen. So präsentiert sich also den Lesenden nicht nur ein buntes, sondern auch ein unvollständiges Bild. Sie sind daher eingeladen, die hier präsentierten Experimentierfelder und sozialen Innovationen nicht nur vertieft kennenzulernen, sondern sie auch aktiv zu unterstützen oder es ihnen gleich zu tun.

Einige Projekte, die wir in diese Reihe bemerkenswerter Commons aufgenommen haben, betrachten sich selbst nicht einmal als solche. Das verführt, den Autoren des jüngsten Corner House Report zuzustimmen, die diagnostizieren, dass Commons tendenziell als Begriff der politischen Kunst und weniger zur Selbstbeschreibung genutzt wird (Lohmann/Hildyard 2014: 16)1. Insbesondere technologieaffine Projekte konzentrieren sich stärker auf die experimentell-technologischen Komponenten oder auf den aus unserer Sicht notwendigen aber nicht hinreichenden Aspekt der Offenheit – wie bei PLOS, Arduino oder OpenCourseWare – als auf Prozesse des Commoning. Was sie für das Ganze dennoch so wertvoll macht, liegt auf der Hand: Sie ermöglichen die Wissenspools und bauen die Plattformen auf, die Grundlage dafür sind, aus den Nischen herauszutreten, Commons miteinander zu vernetzen und die Infrastrukturen der Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen. Wie entscheidend das ist, wird selbst von den Open Source Communities oft verkannt, was der Kooptation durch Marktteilnehmer einerseits und »Commons-Washing« andererseits Tür und Tor öffnen kann.

Dass wir in der Gruppierung der Beiträge mit gängigen Commons-Klassifizierungen brechen wollten, nicht um einen taxonomischen Neuentwurf zu versuchen, sondern um verschiedene Erfahrungen zueinander in Beziehung zu setzen, haben wir in der Ouvertüre bereits ausgeführt. Was wäre zu den einzelnen Projekten noch zu sagen? Der Titel der ersten Gruppe, »Langlebige Commons« spricht für sich. Kein Nationalstaat hat jemals länger existiert als einige Commons-Institutionen. Hätten wir die Waale aus der Alpenregion vorgestellt, die den Menschen dort 800 bis 900 Jahre als Bewässerungssystem dienten, so wäre dies als rekordverdächtig zu Buche geschlagen. Stattdessen haben wir Beispiele aufgenommen, die zwar etwas weniger Jahrhunderte, aber auch den ein oder anderen politischen Sturm überlebt haben wie das Guassa-Grasland in Äthiopien oder die Gemeinschaftswälder in Rumänien. Sie stehen für die Dauerhaftigkeit und Resilienz vieler Commons – trotz teils widrigster Umstände.

Die Commons der Nachbarschaftlichkeit befinden sich in städtischen und ländlichen Umgebungen, im Norden wie im Süden. Sie sind sehr unterschiedlicher Natur, aber sie verbindet alle, dass sie entweder Lebensräume verteidigen, in denen Commoning in unterschiedlichen Graden möglich ist, oder dass sie um neue Freiräume ringen, weil die Betroffenen von Markt und Staat verlassen sind. Hier wie an anderer Stelle finden sich zudem »Projekte im Schnelldurchlauf«, so der Beitrag zu Urban Commons. Sie vermitteln einen Eindruck von dem, was im Werden und Wachsen ist, statt Projekt für Projekt in die Tiefe zu gehen.

Warum Kunst, Kultur und Digitale Räume für moderne Commons so fruchtbar sind, wird im folgenden Abschnitt deutlich: »Commons in Kunst und Kultur«. Hier entstehen Innovationen, Brüche, Risse im System (Museums- und Theater-Commons, Digitale Kunst als Commons) und deren Dokumentationen (»Remix the Commons«).

Bleibt noch die Sache mit dem Geld. Augenfällig ist, dass es auch in gemeinschaftlichen oder netzwerkbasierten Prozessen Arbeitsteilung gibt. Sie wird allerdings anders ausgerichtet und ist anders organisiert. Die meisten Akteurinnen und Akteure gehen daher davon aus, dass Tauschmittel, auch Geld, nicht nur an der Schnittstelle zum Markt, sondern auch innerhalb von Commons eine wichtige Rolle spielen werden.2 Das Thema ist umstritten, doch trotz aller Kontroversen bleibt klar, dass eine weitere vermeintliche Selbstverständlichkeit in Frage gestellt werden muss, wenn wir uns von der so gleichmachenden wie unbarmherzig spaltenden Macht des Geldes lösen wollen: der Idee, dass etwas immer etwas (Geld) kostet. Ihr ist mit der Gewissheit entgegen zu treten, dass wir gerade das Wertvollste im Leben geschenkt bekommen. Auf dieser Grundlage erst kann darüber nachgedacht werden, wie das systematisch ausschließende, zentral geschöpfte und kontrollierte Tauschmittel Geld neu zu denken ist. Kurz, wie wir Fragen zu Notwendigkeit, Zweck und Design von Tauschmitteln in den Bereich des Gestaltbaren zurückholen. Wir geben in diesem Buch einige Beispiele und werden in Zukunft weiter fragen müssen, ob auch auf gesellschaftlicher Ebene Alternativen denkbar sind, die sich nicht – wie das Geld – verselbständigen und letztlich gegen uns richten.

Die Vielfalt der hier vorgestellten Projekte macht Mut. Sie bezeugt, was angesichts der Struktur der Commons im Grunde selbstverständlich ist: dass Commons auch vor dem Hintergrund ganz unterschiedlicher Weltverständnisse und politischer Positionen gedeihen. Das macht sie stark. Sie mögen wie Inseln erscheinen, doch wer die Texte zueinander in Beziehung setzt, wird einer Einsicht von Norbert Rost zustimmen: »Aus Inseln wachsen neue Kontinente, wenn wir sie klug miteinander verbinden.«3

Literatur

Kratzwald, B. (2014): Das Ganze des Lebens. Selbstorganisation zwischen Lust und Notwendigkeit, Sulzbach, Ulrike Helmer Verlag. Lohmann, L., und N. Hildyard (2014): Energy, Work and Finance, Corner House Report, 31. März 2014, www.thecornerhouse.org.uk/resource/energy-work-and-finance.

1 | »The term ›commons‹ tends to be a term of political art and not of self-description.«

2 | Dieses Thema werden wir im kommenden Band näher beleuchten.

3 | Siehe: www.spiekerooger-klimagespraeche.de/node/171 (Zugriff am 13. Mai 2015).