Commoning in Katastrophenzeiten
Das »Open Street Map«-Team für humanitäre Einsätze
Nur wenige Stunden nachdem im Januar 2010 ein Erdbeben der Stärke 7 Haiti heimgesucht hatte, begann ein Team der freien Online-Karte OpenStreetMap (OSM) alle verfügbaren topografischen Daten des Landes zu sammeln – Straßen, Ortschaften, Krankenhäuser und Regierungsgebäude. Innerhalb von 48 Stunden war ein hochauflösendes Satellitenbild von der Situation nach dem Erdbeben nutzbar. Nach einem Monat hatten 600 Menschen Informationen in Haitis OpenStreetMap eingetragen. Diese Karte wurde rasch zum Standard. Viele Organisationen griffen darauf zu: Such- und Rettungsmannschaften, die Vereinten Nationen, die Weltbank und humanitäre Kartierungsorganisationen wie MapAction.
Im Nachhinein wurde klar: Dies war der erste Schritt zur Gründung des OSM-Teams für humanitäre Einsätze, kurz HOT genannt (Humanitarian OSM Team). HOT hat seither Dutzende ähnlicher Kartierungsprojekte organisiert.
Das Projekt ist eine Art Kartierungs-Commons, dessen frei zugängliche geografische Daten von unschätzbarem Wert für humanitäre Organisationen sind, sei es bei Naturkatastrophen und in Krisensituationen. Die Karten werden auch von der Bevölkerung genutzt, um ihre eigenen Entwicklungsziele zu formulieren und zu verfolgen.
Das Herz von HOT ist die große Zahl engagierter Freiwilliger, die sich der Aufgabe verschrieben haben, freie Online-Karten zu produzieren. Diese basieren auf einer quelloffenen Kartensammlung von OpenStreetMap, einem webbasierten Kartierungsprojekt, das wie ein Wiki funktioniert und dort besonders wertvoll ist, wo es nur wenige oder veraltete Geodaten gibt bzw. solche, die sich schnell ändern. Das globale, kollaborative Projekt Open Street Map (OSM) wurde 2004 von Steve Coast gestartet und knüpft an den Erfolg von Wikipedia an. Alle OSM-Karten werden von Menschen erstellt, die die Erdoberfläche mit GPS-Geräten vermessen, Luftbilder digitalisieren und geografische Daten aus bestehenden öffentlichen Quellen sammeln und freigeben. Dabei stützen sie sich auf Angaben, die von 1,6 Millionen registrierten Nutzerinnen und Nutzern zusammengetragen werden. Anders als Anbieter, deren Karten von bezahlten Experten hergestellt und als proprietäre Produkte verkauft werden, erlaubt es OSM jedem Menschen von überall auf der Welt auf die Kartierungsinstrumente zuzugreifen, neue Informationen einzutragen oder Fehler zu korrigieren. Dadurch können riesige Mengen an Informationen auf sehr partizipative und effiziente Weise in einer Plattform zusammengetragen werden.
Die Karten selbst stehen unter einer freien Lizenz, der Open Data Commons Open Database License (ODbL). Das heißt, sie sind für alle frei zugänglich und dürfen kopiert, verteilt, weitergegeben und adaptiert werden, solange die daraus abgeleiteten Karten unter denselben Bedingungen verfügbar sind.1 Diese Lizenz ist in Katastrophensituationen besonders wichtig, weil sie allen Einsatzdiensten einen schnellen und kostenlosen Zugriff auf genaue Ortsangaben ermöglicht. Das geht mit kommerziellen Daten normalerweise nicht. Die freie Lizenzierung geografischer Daten macht es Hilfsorganisationen zudem viel einfacher, Rohdaten für gedruckte Karten und mobile Anwendungen zu verwenden.
Schon bald nach dieser gemeinsamen Kartieraktion nach dem Erdbeben in Haiti 2010 entstand das OSM-Team als gemeinnützige Organisation. Sie hat als juristische Person zwar einen Vorstand und wahlberechtigte Mitglieder, aber jeder Mensch mit einem OSM-Benutzernamen kann zur Arbeit von HOT beitragen und zwar über den »Tasking Manager«. Mit diesem Instrument wird ein Kartierungsvorhaben in viele kleine Aufgaben zerlegt, die schnell erledigt werden können.2
Das HOT ist Teil eines wachsenden globalen Commons von Freiwilligen, die Geodaten in Karten verzeichnen3 und dabei die Prinzipien von Open Source und Open Data Sharing anwenden, um die Lebensbedingungen in ihrem Wohn- und Lebensumfeld zu verbessern, besonders wenn diese von Naturkatastrophen oder anderen Krisen bedroht sind. Das Team selbst, HOT, unterstützt die Beteiligten auf zwei Wegen: durch die Koordination der weltweit verstreuten freiwilligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die aus Satellitenfotos Karten erstellen, und durch die Ausbildung und Unterstützung von OSM-Gruppen in gefährdeten Ländern. Das HOT bemüht sich zudem, Verständnis dafür zu wecken, dass freie Geodaten in Zeiten politischer Krisen und Naturkatastrophen Leben retten und Lebensbedingungen verbessern helfen.
Ende 2013 traf einer der stärksten jemals beobachteten Taifune, der Taifun Haiyan, die Philippinen. Er zerstörte Tausende Häuser und machte viele Menschen obdachlos. Die philippinische OSM-Gruppe (OSM-PH) und das HOT hatten bereits Erfahrung mit solchen Situationen; eine andere Gruppe humanitärer Kartierer, MapAction, hatte OSM genutzt, um eine offizielle Einsatzkarte nach dem Tropensturm Ondoy 2009 zu erstellen.4 Im Falle von Haiyan begannen sowohl die an OSM-PH Beteiligten als auch die Unterstützer des HOT bereits vor dem Eintreffen des Sturms, die Stadt Tacloban zu kartieren. Dreiunddreißig Freiwillige trugen anhand freier Satellitenfotos 10.000 Gebäude in die OSM ein. Das entspricht etwa einem Viertel aller Gebäude in Tacloban. Die Bedeutung dieser Daten zur Lage von Gesundheitseinrichtungen, Regierungsgebäuden, Wasser-, Energieversorgungstellen und mehr für Hilfsorganisationen, die ihre Aktivitäten schnell und während des bereits laufenden Einsatzes von entfernten Orten aus planen müssen, ist offensichtlich. Das Rote Kreuz nutzte die Karten beispielsweise, um das Ausmaß der Zerstörung abschätzen zu können. Mehr als 1.600 Freiwillige aus aller Welt nahmen in den ersten Monaten nach dem Taifun etwa fünf Millionen Neueinträge oder Korrekturen in der Karte vor. Diese Daten waren für die philippinische Regierung und für internationale Hilfsorganisationen eine enorme Hilfe. So wie die Unterstützung von HOT-Freiwilligen für die Organisation Ärzte ohne Grenzen oder das Rote Kreuz in der Reaktion auf den Ausbruch von Ebola 2014. Detaillierte, sehr präzise und speziell auf die Situation zugeschnittene Karten waren für die Helfer in Guinea, Liberia, Sierra Leone oder Nigeria entscheidend, um medizinische Hilfe dorthin zu bringen, wo sie gebraucht wurde.5
Nicht alle Aktivitäten des HOT geschehen in direkter Reaktionen auf Katastrophen. Oft wird in Regionen kartiert, von denen keine detaillierten geographischen Daten vorhanden sind, etwa im Vorfeld von Veranstaltungen, oder, wie in Lubumbashi in der Demokratischen Republik Kongo, um eine genaue Straßenkarte zu erstellen, die es Ärzte ohne Grenzen erleichtert, die Gesundheitssituation der Bevölkerung besser zu verfolgen oder einschätzen zu können, wann ein umfassender Hilfseinsatz wegen Cholera-Ausbrüchen notwendig wird.
Diese Kooperation begann mit einem Kartierungsfest in Berlin, wo sich Menschen trafen, um Daten von Satellitenfotos in OSM zu übertragen. Nachdem sie einen großen Teil Lubumbashis gewissermaßen per Fernsteuerung kartiert hatten, fuhr ein Mitglied des HOT dorthin, um mit Ärzte ohne Grenzen zu kooperieren.6 Mit Hilfe der Universität von Lubumbashi konnten die Daten zu den einzelnen Straßen noch genauer erfasst werden. Das Team verwendete dafür so genannte »Field Papers«, ein Werkzeug, mit dem Karten direkt aus OSM ausgedruckt werden können.7 Damit können Anmerkungen auf der Papierversion erstellt und diese mit einem Mobiltelefon fotografiert werden. Das digitale Foto mit den Notizen wird anschließend per OSM-Editor hochgeladen. Anschließend kommen Freiwillige anderswo erneut zu einem Mapping-Event zusammen, transkribieren die Notizen und pflegen sie in die Online-Version der OSM ein.8
Das Beispiel ist typisch für ein Muster des HOT-Engagements: Freiwillige aus anderen Ländern machen Karten von Regionen, die Unterstützung brauchen oder wo Orte und Geländeformationen nicht gut erfasst sind. Idealerweise stehen sie in Verbindung mit einer OSM-Community der betreffenden Region, was nicht immer der Fall ist. Ein anderer Zugang des HOT ist es, Menschen vor Ort zu zeigen, wie sie OSM verwenden können, um selbst zu kartieren. Das geschieht oft im Rahmen von speziellen Einsätzen9 wie jenem in Lubumbashi.
Diese Kooperationen und Reisen tragen viel zum Lernprozess bei, und natürlich dazu, OSM ständig zu verbessern. So wurde das Trainingsprogramm LearnOSM10 ursprünglich bei einem HOT-Training in Indonesien entwickelt. LearnOSM bietet leicht verständliche Einführungen und Schritt-für-Schritt Anleitungen für die zentralen Elemente der OSM-Technologie in neun Sprachen.
Wichtig ist auch die besondere Oberfläche für humanitäre Karten der OSM. Sie zeigt vor allem jene Punkte an, die für Hilfsmannschaften nach Katastrophen besonders relevant sind: Wasserstellen, Sanitäre Anlagen, die Straßenqualität, Hydranten für Löschwasser, Stromnetze, Straßenlampen und soziale Einrichtungen. Die Kartenoberfläche kann auch informelle Ansammlungen von Geschäften sichtbar machen. Solche Informationen sind normalen Karten in der Regel nicht zu entnehmen, weil sie die raschen Veränderungen im urbanen Raum nicht laufend aktualisieren oder es den Nutzern nicht erlauben, nah genug heran zu zoomen.
Die Erfahrung des HOT zeigt, dass lokale Praktiken des Commoning ansteckend sind. Was ursprünglich für Menschen in einem Katastrophengebiet hilfreich war, erweist sich auch anderswo in der Welt als sinnvoll. So entsteht ein Kreislauf, in dem Wissen weitergegeben und der Zugang zu den nötigen Werkzeugen verbreitet wird: zunächst von Gemeinschaft zu Gemeinschaft – und schließlich um die ganze Welt.
1 | Der volle Gesetzestext zu dieser Lizenz kann hier nachgelesen werden: http://opendatacommons.org/licenses/odbl. Die Karten, die aus diesen Datenbanken angefertigt werden, sowie deren Dokumentation stehen unter der Creative-Commons-Lizenz BY-SA. Auch diese erlaubt die Weiterverwendung bei Nennung der Quelle und Weitergabe unter gleichen Bedingungen, ist also eine Copyleft-Lizenz.
2 | Hintergrundinformationen: http://wiki.openstreetmap.org/wiki/Humanitarian_OpenStreetMap_Team#Global_Volunteer_Community (Zugriff am 2. Februar 2015).
3 | Siehe dazu den Beitrag von Ellen Friedman über commons-relevante Mapping-Projekte in diesem Buch.
4 | Siehe: http://brainoff.com/weblog/2009/10/08/1495 (Zugriff am 2. Februar 2015).
5 | Jay Cassano hat den Beitrag von HOT zu Beginn der Ebola-Epidemie ausführlicher beschrieben und mit Kartenmaterial veranschaulicht: Inside The Crowdsourced Map Project That Is Helping Contain The Ebola Epidemic, am 22. Oktober 2014 auf www.fastcolabs.com veröffentlicht (Zugriff am 14. Mai 2015).
6 | Siehe: http://hot.openstreetmap.org/updates/2014-04-01_a_week_in_lubumbashi_drc (Zugriff am 14. Mai 2015).
7 | Siehe: http://fieldpapers.org (Zugriff am 2. Februar 2015).
8 | Siehe: http://hot.openstreetmap.org/updates/2014-05-08_london_hot_congo_mapathon (Zugriff am 2. Februar 2015).
9 | Im Original »field missions« (Anm. der Übers.).
10 | Siehe: http://learnosm.org/en (Zugriff am 2. Februar 2015).